Resilienz reloaded

Wie können europäische Lieferketten widerstandsfähiger, nachhaltiger und zukunftssicher werden? Das EU-Projekt ReSChape liefert Antworten – mit fundierten Analysen, konkreten Handlungsempfehlungen und praxisnahen Impulsen für Wirtschaft und Politik.

Globale Lieferketten stehen unter Druck. Zwischen geopolitischen Spannungen, regulatorischen Hürden und digitalem Wandel geraten eingespielte Prozesse zunehmend ins Wanken. Doch wie lässt sich unter diesen Voraussetzungen ein stabiles, widerstandsfähiges Netzwerk von Waren- und Informationsflüssen aufbauen? Antworten liefert das europäische Forschungsprojekt ReSChape. Gemeinsam mit internationalen Partnern entwickelt das Fraunhofer IML Empfehlungen und Strategien, um Europas Lieferketten widerstandsfähiger, nachhaltiger und zukunftsfähiger zu gestalten. Dr. Markus Witthaut, Senior Scientist am Institut, gibt Einblick in die Erkenntnisse und Perspektiven des Projekts – und zeigt, warum strategisches Denken heute wichtiger ist denn je.

Ein Projekt zwischen Wissenschaft und Politik

Genau betrachtet bewegt sich ReSChape an der Schnittstelle zwischen angewandter Forschung und politischer Handlungsempfehlung. »Wir sind im Grunde eine Art Thinktank für resiliente Supply Chains«, erklärt Dr. Witthaut. »Was wir hier tun, ist nicht nur akademisch. Es richtet sich ganz bewusst an Unternehmen, aber auch an politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger.« Das sei ungewöhnlich für ein klassisches Forschungsprojekt, aber notwendig, denn viele der Herausforderungen lägen nicht allein im operativen Bereich, sondern seien strukturell, systemisch, oft sogar geopolitisch.

»Wir sind im Grunde eine Art Thinktank für resiliente Supply Chains«

Dr.-Ing. Markus Witthaut

Gemeinsam mit Partnern aus Spanien, Italien, Portugal, den Niederlanden, Deutschland und Großbritannien hat das Fraunhofer IML über zwei Jahre hinweg analysiert, wo die Achillesfersen europäischer Lieferketten liegen. Dabei kristallisierten sich fünf zentrale Risikofelder heraus, die –  unabhängig von Branche oder Unternehmensgröße – immer wieder als Stolpersteine auftreten.

Disruption als Normalzustand

Die erste dieser Herausforderungen ist die zunehmende Versorgungsunsicherheit. Konflikte, Naturkatastrophen oder auch schlicht veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen führen dazu, dass Materialverfügbarkeit immer schwerer planbar ist. »Wir haben das während der Corona-Pandemie besonders deutlich gesehen. Aber auch aktuell, wenn beispielsweise Containerschiffe das Rote Meer meiden müssen oder Zölle in den USA kurzfristig angepasst werden, zeigt sich: Planungssicherheit ist heute die Ausnahme«, so Witthaut.

Gleichzeitig wird es für Unternehmen schwieriger, die künftige Nachfrage vorherzusagen. Digitalisierung, verändertes Konsumverhalten, demografische Veränderungen und technologische Sprünge sorgen dafür, dass klassische Absatzprognosen häufig ins Leere laufen. »Das hat nicht nur mit Kundenerwartungen zu tun – es verändert ganze Geschäftsmodelle. Wer sich bei der Nachfrageprognose verspekuliert, wird dies teuer bezahlen müssen.«

Digitale Werkzeuge als Chance und Herausforderung

Große Hoffnungen ruhen auf der Digitalisierung. Künstliche Intelligenz, Automatisierung, datengetriebene Entscheidungen – das alles birgt enormes Potenzial. Gleichzeitig wirft es neue Fragen auf: »Was passiert mit Tätigkeiten, die bislang Menschen gemacht haben? Was müssen Unternehmen und deren Mitarbeitende wissen, damit KI richtige und nachvollziehbare Ergebnisse liefert? Was kann KI und was nicht – heute und in Zukunft?« fragt Witthaut. Das Fraunhofer IML sieht hier große Chancen, warnt aber auch vor überzogenen Erwartungen.

Ein weiterer Faktor, der die Resilienz von Lieferketten bedroht, ist der Mangel an qualifizierten Fachkräften. »Unser Bildungssystem ist nicht auf den permanenten Wandel ausgelegt«, sagt Witthaut. »Lebenslanges Lernen ist ein Schlagwort – aber die Realität sieht oft anders aus.« Gerade in Branchen wie der Logistik sei der Innovationsdruck enorm, gleichzeitig fehle es oft an geeigneten Weiterbildungsangeboten oder an Strategien zur Wissensweitergabe im Unternehmen.

Zwischen Vorschrift und Verantwortung

Als besonders komplex erwies sich im Projektverlauf das Feld der Regulatorik. Gesetze wie das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) oder der EU-weite Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) stellen Unternehmen vor gewaltige Herausforderungen. »Die Intention ist absolut nachvollziehbar: Wer hier konsumiert, soll sicher sein können, dass Produkte unter fairen und umweltgerechten Bedingungen hergestellt wurden. Aber in der Praxis fehlt es häufig an Klarheit«, erläutert Witthaut.

Was heißt es konkret, wenn ein Unternehmen nachweisen soll, dass in seiner Lieferkette keine Kinderarbeit stattfindet? Wie funktioniert eine risikobasierte Prüfung in mehrstufigen, globalen Netzwerken? Und wie lassen sich solche Prozesse auch für Mittelständler umsetzen, die weder eigene Rechtsabteilungen noch Compliance-Teams beschäftigen? »Hier braucht es dringend praxistaugliche Werkzeuge und klare Handlungsleitfäden«, betont der Wissenschaftler. Die EUOmnibus-Initiative, die die Vereinfachung der Berichtspflichten der Unternehmen anstrebt, sei ein erster Schritt in diese Richtung. Solche Anstrengungen müssten aber noch erheblich verstärkt werden.

Eine Illustration, die einen Mann an einem Laptop zeigt, von dem bunte Linien ausgehen.
© Fraunhofer IML

Impulse für Unternehmen und Politik

ReSChape liefert nicht nur Analysen, sondern auch Empfehlungen. Für Unternehmen bietet das Projekt ein strukturiertes Rahmenwerk, mit dem sich bestehende Liefernetzwerke auf Schwachstellen hin untersuchen und weiterentwickeln lassen. Dabei geht es nicht um akademische Idealmodelle, sondern um konkrete Strategien, mit denen sich Risiken abfedern und Chancen nutzen lassen.

Witthaut sieht in der Arbeit des Fraunhofer IML eine Brückenfunktion: »Wir versuchen, Unternehmen dort abzuholen, wo sie stehen. Gemeinsam entwickeln wir Gestaltungsworkshops, bewerten bestehende Strukturen und helfen, Zukunftsszenarien zu entwerfen.« Das Projekt betone dabei nicht nur Risiken, sondern auch Potenziale – etwa durch gezieltes Nearshoring, eine verbesserte Lagerstrategie oder durch technologische Partnerschaften in Europa.

Doch auch die Politik steht in der Verantwortung. Denn viele Rahmenbedingungen für resiliente Supply Chains lassen sich nicht auf Unternehmensebene lösen. ReSChape sieht sich deshalb auch als Impulsgeber für die EU-Kommission und nationale Gesetzgeber, etwa durch die Beteiligung an Konsultationen oder durch die Bereitstellung wissenschaftlich fundierter Empfehlungen zur Vereinfachung und Harmonisierung regulatorischer Vorgaben.

Stabilität braucht Struktur

Ein zentrales Ergebnis des Projekts ist die Erkenntnis, dass Resilienz kein Zustand ist, sondern ein Prozess. Und dieser Prozess braucht Struktur, Klarheit und strategisches Denken. »Wir beobachten in Europa ein wachsendes Bewusstsein für die Fragilität unserer wirtschaftlichen Systeme, aber auch den Willen, daraus zu lernen«, sagt Witthaut.

»Wir beobachten in Europa ein wachsendes Bewusstsein für die Fragilität unserer wirtschaftlichen Systeme, aber auch den Willen, daraus zu lernen«

- Dr.-Ing. Markus Witthaut

Zwar stehe nicht jede Branche vor denselben Herausforderungen und nicht jedes Unternehmen brauche dieselben Lösungen. Aber die fünf identifizierten Schlüsselthemen – Versorgungsunsicherheit, Prognoseunsicherheit, Digitalisierung, Qualifizierung und Regulatorik – bilden einen Orientierungsrahmen, an dem Organisationen ihre Weiterentwicklung ausrichten können.

ReSChape als Ausgangspunkt für Transformation

Für das Fraunhofer IML ist das Projekt dabei kein Schlusspunkt, sondern Ausgangsbasis. »Wir haben das Wissen, wir haben die Werkzeuge. Jetzt geht es darum, sie in die Praxis zu bringen«, betont Witthaut. Erste Unternehmen haben sich bereits beraten lassen, weitere Pilotprojekte sind in Planung.

Besonders in der Kombination mit digitalen Angeboten – wie beispielsweise der Open Logistics Foundation – sieht der Wissenschaftler große Potenziale: »Diese gemeinnützige Organisation, die Unternehmen eine neutrale Plattform für die gemeinsame Entwicklung von Open-Source-Software bietet, kann helfen, operative Resilienz umzusetzen – und ReSChape liefert die strategische Basis dafür. Das eine ergänzt das andere perfekt.«

In einer Welt, die sich immer schneller verändert, wird die Fähigkeit zur Anpassung zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. ReSChape zeigt, dass Resilienz kein abstraktes Konzept sein muss, sondern konkret gestaltbar ist. Für Unternehmen, für Politik – und für eine zukunftsfähige Logistik in Europa.

ReSChape

Das EU-Projekt ReSChape widmet sich der Frage, wie europäische Lieferketten widerstandsfähiger, nachhaltiger und zukunftssicher gestaltet werden können. Dabei analysiert das Projekt soziale, wirtschaftliche und ökologische Veränderungen in globalen Wertschöpfungsnetzen und entwickelt Strategien für ein robustes Supply Chain Management.

Ein zentraler Aspekt von ReSChape ist die Identifikation von Risiken und Herausforderungen, die sich aus aktuellen Trends ergeben. Basierend auf diesen Erkenntnissen werden fundierte Handlungsempfehlungen für Unternehmen und politische Entscheidungsträger erarbeitet. Das Projekt wird von einem europäischen Konsortium getragen, zu dem unter anderem das Fraunhofer IML, die Technische Universität Eindhoven und die Aston University gehören.

Neben der Entwicklung neuer Lieferkettenmodelle untersucht ReSChape auch die Rolle der Digitalisierung als Mittel zur Förderung sozialer Integration und zur Anpassung an wirtschaftliche und ökologische Veränderungen. Dabei werden verschiedene europäische Branchen wie Mode, Automobilindustrie, Medizintechnik und Maschinenbau analysiert, um branchenspezifische Lösungen zu entwickeln.

Das Projekt läuft bis September 2025 und wird im Rahmen des Horizon Europe-Programms finanziert. Ziel ist es, innovative Instrumente zur Überwachung und Bewertung von Handelsmustern zu entwickeln und Mechanismen zur Analyse von Störungen in globalen Wertschöpfungsketten bereitzustellen.

Zur Webseite von ReSChape

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Markus Witthaut

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