Logistik der Zukunft: Intelligenter, Resilienter, Nachhaltiger

Jahrzehntelang galt die Logistik als stille Effizienzmaschine im Hintergrund der industriellen Produktion – präzise, kostensensibel, reaktiv. Doch inmitten von Klimawandel, globalen Krisen, geopolitischen Spannungen, digitalem Strukturwandel und regulatorischen Umbrüchen zeigt sich: Die Logistik ist nicht länger bloß Dienstleisterin. Sie wird zur systemischen Gestaltungskraft einer vernetzten, nachhaltigen und resilienten Gesellschaft. 

Die Logistikbranche steht heute vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits ist sie Rückgrat des globalen Warenverkehrs und Treiber vieler wirtschaftlicher Prozesse. Andererseits ist sie mit komplexen Problemen konfrontiert, die sowohl operativer als auch strategischer Natur sind. Eines der zentralen Probleme liegt in der Komplexität der eigenen Wertschöpfungsketten. Viele Logistikunternehmen kämpfen mit fragmentierten IT-Systemen, fehlenden Schnittstellen und einer oft historisch gewachsenen Systemlandschaft, die eine durchgängige Digitalisierung erschwert. Hinzu kommt der enorme Investitionsbedarf: Neue Technologien erfordern nicht nur hohe Anfangsinvestitionen, sondern auch qualifiziertes Personal, das mit den neuen Systemen umgehen kann. Gerade kleine und mittlere Unternehmen (KMU) scheuen angesichts unsicherer Marktentwicklungen solche langfristigen Bindungen. Zusätzlich wirken regulatorische Unsicherheiten, volatile Märkte, geopolitische Krisen und Fachkräftemangel als Innovationsbremsen. 

»Antworten auf die weltweiten Herausforderungen, denen wir uns heute gegenübersehen, liefern gerade Digitalisierung, Automatisierung und zukünftig Autonomisierung.«

- Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Henke

Künstliche Intelligenz: Potenziale bei Planung, Prognose und Optimierung

Trotz aller Hürden schreitet der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) in der Logistik stetig voran. Bereits im Jahr 2022 nutzten rund 22 Prozent der deutschen Logistikunternehmen KI aktiv, weitere 26 Prozent planten oder diskutierten den Einsatz. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig: Von Bedarfsprognosen über Routen- und Absatzplanung bis hin zur Echtzeit-Optimierung von Transporten und Lagerprozessen reichen die Szenarien. Leerfahrten können reduziert, Routen dynamisch angepasst und Kapazitäten effizienter genutzt werden. Über die Hälfte der Unternehmen geht davon aus, dass KI schon bald flächendeckend Einzug in die Logistik halten wird. Im Vergleich zur Gesamtwirtschaft zeigt sich die Branche hier als Vorreiter der Digitalisierung.

Verschiedene Daten auf einem Bildschirm. Im Hintergrund tippt eine Person auf einer Tastatur.
© InfiniteFlow - stock.adobe.com
Ein Bild von Institutsleiter Uwe Clausen
© Fraunhofer IML

»Unternehmen, die bei der Digitalisierung besonders erfolgreich sind, verbindet oft die Bereitschaft zur Qualifizierung ihrer Mitarbeitenden und zu Investitionen, die Zusammenarbeit mit der Forschung und ein übergreifendes systemisches Verständnis der Logistik.«

- Prof. Dr.-Ing. Uwe Clausen

Nachhaltigkeit: Klimaziele als Innovationsmotor

Parallel wächst der Druck zur Dekarbonisierung. Der Verkehrssektor ist in Deutschland für rund 22 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, wovon ein Drittel auf den Güterverkehr entfällt. Nachhaltigkeit ist längst kein Nice-to-have mehr, sondern regulatorische und gesellschaftliche Pflicht. Rund 62 Prozent der Logistikunternehmen setzen dabei auf digitale Technologien, um Emissionen zu senken und Prozesse nachhaltiger zu gestalten. Der Einsatz von Elektro- und Hybridfahrzeugen, alternativen Antrieben in der Schifffahrt und nachhaltigen Flugkraftstoffen nimmt stetig zu. Für die sogenannte Grüne Logistik wird weltweit ein Marktvolumen von rund 1,5 Milliarden US-Dollar bis 2028 prognostiziert.

»Für jüngere Generationen hat Nachhaltigkeit einen großen Stellenwert.«

- Prof. Dr.-Ing. Alice Kirchheim

Resilienz: Lieferketten widerstandsfähiger machen

Die jüngsten Krisen haben gezeigt, wie anfällig globale Lieferketten sein können. Zwar beurteilen viele Unternehmen ihre Supply Chains heute robuster als vor der Pandemie, dennoch bleibt die Resilienz eine der größten Baustellen. Während 79 Prozent der Unternehmen immerhin die erste Lieferantenstufe überwachen, erfassen nur 14 Prozent auch die tieferen Ebenen ihrer Lieferketten. Hier liegt erhebliches Risiko verborgen, das in Krisensituationen schnell operative Brüche verursachen kann. Laut FM Resilience Index 2025 schneidet Deutschland im globalen Vergleich immerhin gut ab: Im Bereich Logistik belegt das Land Rang drei unter 130 analysierten Märkten, auch dank seiner leistungsfähigen Infrastruktur und wirtschaftlichen Stabilität.

Ein Bild von Institutsleiter Michael Henke
© Fraunhofer IML

»Das umfassende Management von Supply Chains erfordert Deep-Tier-Transparenz. Hier liegen enorme Datenschätze, die mithilfe von KI gehoben werden und zum Aufbau resilienter und nachhaltiger Supply Chains genutzt werden können.«

- Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Henke

Innovationsdruck als Dauerzustand

Diese Zahlen zeigen: Logistikunternehmen agieren heute in einem Spannungsfeld aus Kostendruck, Klimaschutz, globalen Unsicherheiten und wachsendem Technologieangebot. KI, nachhaltige Lösungen und resiliente Lieferketten sind keine optionalen Projekte mehr, sondern essenzielle Bausteine für die Zukunftsfähigkeit der Branche. Wer heute investiert, schafft die Grundlagen für operative Exzellenz, Wettbewerbsfähigkeit und die Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen. Der Transformationsprozess ist allerdings anspruchsvoll – technologische Kompetenz, strategische Weitsicht und kluges Change Management sind gefragter denn je. Mitten in dieser Transformation steht das Fraunhofer IML und denkt die Logistik neu: als lernfähiges, selbstorganisierendes, ökologisch verantwortungsvolles System. Die strategischen Eckpfeiler dieser neuen Logik sind Künstliche Intelligenz, Resilienz und Nachhaltigkeit. Nicht als getrennte Innovationslinien, sondern als vernetzte Zukunftsdimensionen.

»Resiliente Lieferketten und Logistiksysteme helfen uns, mit zunehmender Unsicherheit aus politischen, wetterbedingten oder technikbedingten Störungen gut klarzukommen.«

- Prof. Dr.-Ing. Uwe Clausen

AULIS: Intelligentes Flottenmanagement für autonome Intralogistik

Ein Tablet, auf dem das Betriebssystem Aulis läuft mit einem Transportfahrzeug im Hintergrund.
© Fraunhofer IML
Ein Tablet, auf dem eine Person gerade Aulis bedient
© Fraunhofer IML

Ein zentrales Beispiel für diesen Paradigmenwechsel ist Aulis – ein modulares, agentenbasiertes Betriebssystem, das innerbetriebliche Materialflüsse mit Fahrerlosen Transportfahrzeugen (FTF) und autonomen mobilen Robotern (AMR) effizient organisiert (siehe auch S. 16). Das Besondere: Aulis ist herstellerunabhängig, basiert auf offenen De-facto-Standards wie VDA 5050 oder M2X und wird als Open Source bereitgestellt. So entsteht ein echtes Plug-and-Play-System, das sich flexibel in bestehende IT-Architekturen integrieren lässt. Aulis adressiert zentrale Herausforderungen moderner Produktionslogistik: Die modulare Architektur erlaubt es, Prozesse exakt an betriebliche Gegebenheiten anzupassen. Unternehmen können einzelne Module – etwa für Auftragsvergabe, Routing, Optimierung, Fahrzeugsteuerung oder Benutzeroberflächen – je nach Bedarf kombinieren, erweitern oder ersetzen. Die Kommunikation erfolgt dabei über das offene IoT-Nachrichtenprotokoll MQTT oder alternativ über andere etablierte Protokolle. So entsteht ein maximal anpassbares, zukunftssicheres System, das eine herstellerübergreifende Interoperabilität ermöglicht.

Der Auftragsagent: Modulare Struktur mit souveräner Datenhoheit

Die Vielfalt der Aulis-Module spiegelt die funktionale Tiefe wider: Der Auftragsagent verwaltet Produktions- und Transportaufträge und integriert sich in ERP-, WMS- und MESSysteme. Der Routingagent plant zeitoptimale Routen, das Optimierungsmodul verteilt Aufträge intelligent und effizient. Fahrzeugagenten übersetzen Steuerbefehle für unterschiedliche Robotermodelle. Und das User-Interface-Modul visualisiert Prozesse in Echtzeit – mobil, interaktiv, übersichtlich. Entscheidend ist dabei die Wahlfreiheit, wo Aulis betrieben wird – in der Cloud, auf Edge-Systemen oder On-Premise – ganz im Sinne einer souveränen Datenhaltung.

Ein Mann steht vor einem Bildschirm und erläutert das darauf gezeigt Projekt.
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SKALA: Vertrauenswürdige Wertschöpfung durch KI und Blockchain

Während Aulis auf innerbetriebliche Prozesse fokussiert, richtet SKALA den Blick auf überbetriebliche Datenflüsse (S. 34). Das vom Bundesministerium für Verkehr (BMV) geförderte Projekt zielt darauf, KI und Blockchain-Technologie zu einer vertrauenswürdigen, offenen Infrastruktur für die Wertschöpfungsketten von morgen zu verbinden. Im Mittelpunkt steht die transparente, sichere und gleichzeitig souveräne Teilung von Daten – von der Nachverfolgbarkeit entlang der Lieferkette über Smart Contracts bis hin zur Digitalisierung von Dokumentenströmen. Besonders KMU erhalten durch Open-Source-basierte Softwarebausteine Zugang zu technologischer Exzellenz, ohne sich an proprietäre Anbieter binden zu müssen. 

Omnistics: Künstliche Intelligenz als Dienstleistung

Eine ähnliche Offenheit prägt auch die Plattform Omnistics (S. 40). Sie steht für einen niederschwelligen Zugang zur Künstlichen Intelligenz – gerade für Unternehmen ohne ausgebaute IT-Infrastruktur. Als AI-as-a-Service-Baukasten bietet Omnistics verschiedene spezialisierte Anwendungen: Capcast für präzise Kapazitätsprognosen, Pretime zur Vorhersage multimodaler Ankunftszeiten, LoOmni-Chat als intelligenten Sprach- und Wissensassistenten oder Frostimate zur Berechnung marktgerechter Frachtraten. Alle Module basieren auf trainierten KI-Modellen und können flexibel auf eigene Hardware portiert oder über offene Schnittstellen angebunden werden. So wird Digitalisierung nicht zur Hürde, sondern zum Werkzeug. 

Ein Laptop, auf dessen Bildschirm das Programm Omnistics läuft.
© Fraunhofer IML

Silicon Economy: Von der Automatisierung zur kognitiven Logistik

Zwei Wissenschaftler stehen neben dem Transportroboter Odyn.
© Fraunhofer IML
Mitarbeitende diskutieren, während sie an einem Tisch sitzen.
© Fraunhofer IML

Die Basis für viele zukunftsweisende Forschungsprojekte liegt in der »Silicon Economy« (S. 14). Mit dem Synonym für eine kommende digitale Infrastruktur bzw. ein digitales Ökosystem, das auf der automatisierten Verhandlung, Disposition und Kontrolle von Warenströmen beruht und neue, digitale Geschäftsmodelle (nicht nur) für die Logistik ermöglicht, verfolgte das Fraunhofer IML seit 2020 ein visionäres Leitprojekt als Teil des BMV-Innovationsprogramms Logistik 2030. Das Projekt verband digitale Infrastruktur, Künstliche Intelligenz und Open Source zu einem neuen logistischen Betriebssystem. Ziel war eine voll vernetzte Logistik, in der Softwareagenten autonom handeln, Informationen in Echtzeit austauschen, Verträge digital verhandeln und Entscheidungen treffen – sicher, interoperabel, vertrauenswürdig.

Das Besondere: Alle entwickelten Komponenten – von Identitätsdiensten über Transportverträge bis zu Routing-Algorithmen – werden über die Open Logistics Foundation, ebenfalls initiiert vom Fraunhofer IML, als Open Source bereitgestellt. Genau genommen ist die Open Logistics Foundation ein strategisches Netzwerk für den Aufbau standardisierter, quelloffener Softwarelösungen in der Logistik. Hier entstehen offene Kommunikationsschnittstellen (sogenannte APIs), Datenmodelle und Referenzimplementierungen – alles mit dem Ziel, Interoperabilität und Plattformneutralität im digitalen Logistikraum zu ermöglichen. Unternehmen jeder Größe können diese Bausteine nutzen, erweitern und in ihre eigenen Systeme integrieren. So entsteht ein föderiertes Innovationsökosystem, das der europäischen Logistik eine digitale Souveränität jenseits proprietärer Plattformriesen sichert. Ergänzt wird dies durch die Initiative Open Labs, bei der sich Unternehmen in konkreten Entwicklungspartnerschaften mit dem Fraunhofer IML zusammenschließen. So entsteht nicht nur Wissenstransfer, sondern auch direkte Verwertung von KI-basierten Technologien in die betriebliche Realität.

»Die Basis für resiliente und nachhaltige Logistiksysteme sind vollständig digitalisierte Geschäftsprozesse, denn damit ist es möglich, die IST-Situationzu erheben, einen SOLL-Zustand zu definieren und den Weg dahin kontinuierlich zu monitoren.« 

- Prof. Dr.-Ing. Alice Kirchheim

Ein Bild von Institutsleiterin Alice Kirchheim.
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Plattformstrategien und Datenökosysteme: Die Logistik wird vernetzt

Mit der Silicon Economy und verwandten Initiativen treibt das Fraunhofer IML also die Transformation von Supply Chains zu plattformbasierten Wertschöpfungssystemen voran. Daten werden dabei nicht isoliert gesammelt, sondern entlang standardisierter Protokolle in Echtzeit geteilt, verarbeitet und bewertet – mit voller Wahrung von Datenhoheit und Sicherheit. Diese Plattformstrategien ermöglichen nahtlose Prozessketten zwischen Herstellern, Logistikdienstleistern und Kunden, transparente CO2-Bilanzen für jeden Transportweg, automatisierte Vertragsabwicklung auf Basis intelligenter Verträge sowie resilientere Entscheidungsprozesse durch digitale Redundanzen. Eine Kernvoraussetzung für diese Plattformlogik ist die semantische Interoperabilität – also das Verständnis von Daten über Systemgrenzen hinweg. Das Fraunhofer IML entwickelt hierzu standardisierte Datenmodelle für logistische Objekte, semantische Übersetzungsschichten, Werkzeuge zur Sicherung der Datenqualität und offene Referenzarchitekturen, die insbesondere auch KMU den Zugang zur Plattformwelt ermöglichen. Der technologische Clou liegt im Gleichgewicht aus Offenheit, Sicherheit und Funktionalität – nur so wird Plattformlogistik zur tragfähigen Infrastruktur.

Resilienz: Logistiksysteme, die auf Ungewissheit vorbereitet sind

Wie anfällig globale und regionale Versorgungssysteme auf Krisen reagieren, hat die Covid-19-Pandemie offengelegt. Das Projekt »ResKriVer«, das vom Fraunhofer IML gemeinsam mit Partnern aus Forschung, Verwaltung und Gesundheitslogistik betrieben wird, hat das Ziel, eine digital gestützte Plattform für Krisenvorsorge und -reaktion aufzubauen (S. 32). Im Zentrum stehen dabei die Erfassung von Bedarfen und Beständen in Echtzeit, die priorisierte Allokation knapper Güter mithilfe von KI, die Sichtbarmachung verfügbarer Transportressourcen und Versorgungsengpässe sowie die Entwicklung von Szenarien für präventive Resilienzmaßnahmen.

Eine der leistungsfähigsten Grundlagen für resiliente Netzwerke ist die Entwicklung von Digitalen Zwillingen logistischer Systeme. Das Fraunhofer IML verfügt über eine breite Projektbasis zu diesem Thema – unter anderem in Zusammenarbeit mit Partnern aus Automotive, Chemie, Lebensmittelversorgung und Logistikdienstleistung. Digitale Zwillinge ermöglichen es, Lieferkettenstörungen wie beispielsweise Unterbrechungen in Asien oder Nachfrageverschiebungen in Europa zu simulieren, Schwachstellen und Single-Source-Abhängigkeiten zu analysieren, alternative Logistik- und Transportpfade zu testen und so robuste Systemarchitekturen zu entwickeln. In der Kombination mit KI entstehen prädiktive, sich selbst anpassende Systeme, die aus Echtzeitdaten lernen und sich im Bedarfsfall automatisch neu konfigurieren.

So ersetzt die Forschungsstrategie Supply Chain Engineering, die am Fraunhofer IML entwickelt wird, das Denken in starren Ketten durch ein Konzept dynamischer, rekonfigurierbarer Wertschöpfungsnetzwerke. Dazu gehören die modulare Strukturierung von Lieferketten mit eingebauten Alternativen und Redundanzen, ein kontinuierliches Echtzeit-Monitoring kritischer Pfade sowie die Integration dezentraler Fertigungs- und Lagereinheiten wie etwa 3DDruckzentren oder urbaner Micro-Hubs. Resilienz wird damit zur Systemqualität – wirtschaftlich tragfähig, technologisch fundiert und sozial verantwortbar.

»Nur resiliente Lieferketten sind wirtschaftlich erfolgreich und damit

nachhaltig.«

- Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Henke

Nachhaltigkeit: Logistik als ökologische Systemverantwortung

Im Rahmen des EU Green Deals und der Circular Economy Regulation wird der digitale Produktpass zum zentralen Instrument für Nachhaltigkeit und Nachverfolgbarkeit. Das Fraunhofer IML arbeitet an technologischen Grundlagen und praxisfähigen Standards, um CO2-Fußabdruck und Materialzusammensetzung über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts zu dokumentieren. Darüber hinaus können Informationen zu Reparaturfähigkeit, Herkunft oder Recyclingoptionen systematisch hinterlegt werden. Hersteller, Händler, Logistiker und Entsorger werden über eine gemeinsame Datenplattform vernetzt. Der digitale Produktpass ist damit nicht nur eine regulatorische Verpflichtung, sondern auch ein strategisches Werkzeug für nachhaltige Entscheidungen.

»Wenn Verbraucher nachhaltige Produkte und nachhaltiges Wirtschaften fordern, wird es sich durchsetzen. Und ein Teil meines Jobs ist es, bei Verbrauchern genau dieses Bewusstsein zu schaffen.«

- Prof. Dr.-Ing. Alice Kirchheim

Ebenfalls beteiligt sich das Fraunhofer IML an zahlreichen Initiativen zur emissionsfreien Stadtlogistik. Dazu zählt die Integration autonomer Zustellfahrzeuge in urbane Mikrodepots ebenso wie die Kopplung von Wasserstoff-Infrastruktur mit multimodalen Umschlagplätzen. Ergänzend werden Plattformen zur ökologisch optimierten Tourenplanung entwickelt. In der Kombination von KI, Sensorik und nachhaltiger Verkehrsstrategie entsteht so eine intelligente ökologische Logistik, die Wirtschaftlichkeit, Umwelt- und Lebensqualität vereint.

ForestGuard: Open-Source-Blockchain für entwaldungsfreie Lieferketten

Ein Mann kippt geerntete Kaffeebeeren in einen Sack.
© Fraunhofer IML

Informationsbedarf gibt es auch bei der Umsetzung der EU-Anti-Entwaldungsverordnung (EUDR). Allerdings fehlen den Unternehmen häufig ausreichende, verlässliche und manipulationssichere Daten aus ihren Lieferketten. Das Projekt ForestGuard (Logistik entdecken berichtete in Ausgabe #25) entwickelt eine praxisorientierte, skalierbare Open-Source-Lösung, die durch Kombination verschiedener Technologien wie Blockchain und Distributed-Ledger-Technologie eine digitale Nachweisführung ermöglicht. Im Pilotprojekt wurde die Anwendung am Beispiel einer Kaffee-Lieferkette erprobt, wobei Stakeholder entlang der gesamten Kette fälschungssichere Daten wie Geodaten, Eigentumsnachweise und Entwaldungsfreiheit hinterlegen konnten. Diese Informationen dienen u. a. Importeuren als Grundlage für Sorgfaltserklärungen an das EU-Informationssystem und erleichtern die Dokumentation und Nachverfolgung von Produktions- und Logistikprozessen. Insbesondere kleinbäuerliche Produzenten profitieren von der verbesserten Verwaltung ihrer Anbauflächen und Ernteerträge. ForestGuard bietet darüber hinaus Funktionen für Risikobewertung, Berichterstattung und die Einhaltung regulatorischer Anforderungen gemäß Artikel 9 der EUDR.

Forschungshallen und Labs: Vom Prototyp zur Praxis

Ein Alleinstellungsmerkmal des Fraunhofer IML ist die konsequente Verbindung von Grundlagenforschung mit Anwendungspraxis. In den Forschungshallen und Labs des Instituts werden neue Technologien in realen Umgebungen getestet, angepasst und industrialisiert. Hier entstehen Demonstratoren für autonome Materialflusssysteme, KI-gestützte Transportplanung, vernetzte Mensch-Maschine-Interaktionen, nachhaltige Verpackungslösungen und digitale Liefernachweise. Unternehmen können nicht nur testen, sondern mitentwickeln – direkt vor Ort, interdisziplinär und mit wissenschaftlicher Begleitung. Die Labs sind damit mehr als Technikshowrooms: Sie fungieren als Katalysatoren für Transformationsfähigkeit.

Denn gerade für KMU sind neue Technologien oft schwer greifbar. Am Fraunhofer IML entstehen daher niedrigschwellige Demonstratoren, mit denen sich Use Cases praxisnah erleben lassen – etwa ein digitales Transportregister mit automatisierter CO2-Bilanzierung, ein modularer KI-Stack zur Sendungsverfolgung in Echtzeit oder ein Digitaler Zwilling eines städtischen Umschlagsystems. Ziel ist es, Vertrauen in Technologien zu schaffen – durch Transparenz, Beteiligung und konkrete Anwendungsnähe. 

Zwei Männer arbeiten an dem Transportroboter evoBOT.
© Fraunhofer IML

»Nachhaltigkeit bleibt eine Anforderung an die Logistik, zu der wir gute Lösungen anbieten.«

- Prof. Dr.-Ing. Uwe Clausen

Technologietransfer: Qualifikation, Mittelstand und Human Factors

Technologieoffenheit heißt am Fraunhofer IML aber auch: Zugang schaffen. Vor allem KMU brauchen Lösungen, die anschlussfähig sind – technisch, organisatorisch und kulturell. Das Fraunhofer IML bietet hierzu Unterstützung beim Technologietransfer, Weiterbildungsformate wie Summer Schools und Future Skills Trainings, partizipative Innovationswerkstätten sowie toolbasierte Orientierungshilfen für die Einführung von KI, Internet of Things (IoT) und Digitalen Zwillingen.

Nicht zuletzt rückt das Fraunhofer IML den Menschen als Akteur der Transformation ins Zentrum. Im Fokus stehen adaptive Assistenzsysteme, die Mitarbeitende in komplexen Umgebungen unterstützen, ergonomisch gestaltete Mensch-Technik-Schnittstellen sowie partizipative Designprozesse, bei denen Mitarbeitende selbst aktiv an der Entwicklung neuer Lösungen beteiligt sind. Die Vision ist eine Logistik, die nicht gegen, sondern mit den Menschen wächst – inklusiv, flexibel und sinnvoll digital.

Ausblick: Systemische Intelligenz als Zukunftsbild

Aulis, SKALA, Omnistics und die anderen angesprochenen Projekte sind keine Einzelinitiativen. Sie sind Teil eines systemisch gedachten Ökosystems, in dem Technologieentwicklung, Open Source, Standardisierung und gesellschaftlicher Nutzen Hand in Hand gehen. Das Fraunhofer IML schafft damit mehr als nur funktionierende Systeme – es gestaltet eine neue Logik der Logistik: offen, dezentral, lernfähig und souverän. Denn die Logistik der Zukunft ist nicht länger linear, reaktiv oder unsichtbar. Sie wird zur strategischen Steuerungsinstanz einer vernetzten Welt. Sie organisiert nicht nur Güterflüsse, sondern orchestriert Informationen, Energieverteilung, Ressourceneffizienz, Systemresilienz und Nachhaltigkeit. Im Kontext von Industrie 5.0, EU Green Deal, CSRD, Lieferkettengesetz und der EU-Digitalstrategie wird aber auch deutlich: Logistik ist kein rein operativer Bereich mehr – sie wird politisch, ökologisch, gesellschaftlich relevant. Das Fraunhofer IML arbeitet mit seinen Projekten, Plattformen und Partnern genau an dieser Schnittstelle. Es denkt Logistik nicht nur technisch, sondern systemisch – als integrativen Bestandteil eines zukunftsfähigen Europas.