Rechtssicherheit für die Industrie 4.0

Wenn Menschen Verträge abschließen, können sie die Konsequenzen ihres Handelns prinzipiell abschätzen. Was aber, wenn es um Entscheidungen geht, die autonom agierende Maschinen treffen? Sie sind nach heutiger Gesetzeslage de facto nicht befugt, rechtsgültige Abkommen zu treffen. Folglich können sie im Schadensfall auch nicht haftbar gemacht werden. Diese »Grauzone« zu lichten ist eine Herausforderung, der sich ein Team aus Wissenschaftlern, Juristen, Informatikern und Ingenieuren stellt.

 

Mit Initiierung des Forschungsprojekts »Industrie 4.0 Recht-Testbed« wurde die Mission ausgegeben, eine sichere Testumgebung zu schaffen, in der sogenannte Software-Agenten automatisiert Verhandlungen durchführen und Verträge abschließen. Die Testumgebung ist so gestaltet, dass sie auch Rechtsfragen sowie Aspekte der IT-Sicherheit untersuchen und validieren kann. Deren Einbindung in ein Industrie-4.0- Ökosystem wäre auch für den Menschen eine enorme Erleichterung. Denn monotone Tätigkeiten, wie etwa die Aufgabe von Bestellungen sowie das Prüfen von Verträgen und Rechnungen, könnten entfallen. Stattdessen ordern Software-Agenten zum Beispiel den Nachschub für die Produktion in Eigenregie. Doch bis die erforderliche Rechtssicherheit geschaffen werden kann, die mit dieser Form der maschinellen Autonomie einhergeht, ist es noch ein weiter Weg.

Interdisziplinäre Expertenrunde am Werk

Auf dieser Reise gilt es, Konzepte zur Schaffung von Rechtskonformität in der M2M-Kommunikation zu erarbeiten und entsprechende Werkzeuge bereitzustellen. Explizit adressiert werden auch mittelständische und kleinere Betriebe (KMU), die Investitionen in intelligente Systeme meist zögerlich gegenüberstehen. Denn auch sie sollen an der Industrie 4.0 partizipieren können. In einem ersten Schritt hat das einberufene Konsortium Use Cases für Produktion und Logistik entwickelt. Anhand dieser wurden variierende Szenarien simuliert, inklusive provozierter Störfälle, wie etwa Lieferverzug. Diese sind in rechtlicher Hinsicht zu analysieren und zu bewerten. Weitere Erkenntnisse liefern simulierte Gerichtsverfahren (Mock trials), in denen fiktive kritische Ereignisse aus juristischer Perspektive geprüft werden.

 »Dass Maschinen mit Maschinen verhandeln, ist aus technologischer Sicht heute gar kein Problem mehr«, weiß Lara Reinhardt aus der Abteilung Informationslogistik und Assistenzsysteme am Fraunhofer IML. »Um daraus resultierende Rechtsfragen klären zu können, entwickeln wir das Recht-Testbed, vergleichbar mit einem virtuellen Sandkasten.« In diesem digitalen, öffentlich zugänglichen Experimentierfeld sollen Unternehmen geplante Industrie-4.0-Komponenten und damit einhergehende Geschäftsprozesse ausgiebig testen und rechtskonform gestalten können. 

Das Recht der Maschinen wird im Projekt »Industrie 4.0 Recht-Testbed« erforscht.
© Fraunhofer IML
Das Recht der Maschinen wird im Projekt »Industrie 4.0 Recht-Testbed« erforscht.

Justiziable Rechtsfragen im Stresstest

Nach Aufbereitung der simulierten Anwendungsfälle stand auf Seiten der Juristen die Entwicklung von Musterverträgen im Fokus. Parallel haben IT-Sicherheitsforscher 2020 Risikoanalysen durchgeführt, und das Team des Fraunhofer IML konzentrierte sich auf die Implementierung des Recht-Testbeds. Im Mittelpunkt der Betrachtung stand auch die Distributed-LedgerTechnologie, die als Unterbau dient. Zwei Varianten der Blockchain wurden in die engere Wahl gezogen und unter Berücksichtigung der Anforderungen des Recht-Testbeds vergleichend gegenübergestellt. Eine endgültige Entscheidung, die die Forscher in enger Abstimmung treffen, steht noch aus.

Die Arbeit der selbstorganisierenden Teams ist von einer iterativen und inkrementellen Vorgehensweise geprägt. »Die technische Implementierung des RechtTestbeds gehen wir agil an. Dabei agieren wir Schritt für Schritt in sogenannten Sprints, bei denen wir stets neu hinzulernen«, sagt Reinhardt. »Hochspannend für uns primär technisch Versierte ist die Fülle der zu berücksichtigenden rechtlichen Kriterien. So ist es zum Beispiel notwendig, abzugrenzen, wann es sich noch um einen Verhandlungsprozess handelt und an welchem Punkt eine Einigung stattfindet, die in einem Vertragsschluss mündet.«

 

Sukzessiver Verstetigungsprozess

Erste Hinweise, wie das Recht-Testbed funktionieren kann, vermittelt ein Demonstrator (Sawyer-Roboter). Dieser wurde primär für Präsenzveranstaltungen entwickelt. Pandemiebedingt ist zudem eine virtuelle Web-Applikation auf der Projektwebseite verfügbar (https://demonstrator.legaltestbed.org), über die sich ein Verhandlungsprozess durchspielen lässt. Vorstellbar wäre ein zu treffendes Agreement mit einem Logistikdienstleister, der den Auftrag erhalten soll, ein dringend benötigtes Bauteil zuzustellen. Eine etwaige Expresslieferung und weitere Parameter könnten die zugrunde liegenden Vertragsbedingungen verändern. 

Weitere Aspekte, die über Termin- und Preisabstimmungen hinausgehen, sind im Demonstrator nicht berücksichtigt. Vielmehr dient er rein zur Visualisierung allgemeiner Fragestellungen. »Diese abgespeckte Version vermittelt zwar erste Eindrücke, kann jedoch die Arbeit, die wir hier leisten, noch nicht im Detail erklären«, unterstreicht Reinhardt. Gerade die juristischen Facetten seien zu komplex, um sie darin abzubilden. Auch die Szenarien in den Use Cases gestalten sich wesentlich umfangreicher.

Gleichwohl handelt es sich bei dem Demonstrator um einen wichtigen Meilenstein, der auch das öffentliche Interesse am Recht-Testbed bedient. Indes geht die Arbeit der Wissenschaftler weiter. Bis Ende 2022 sind die Veröffentlichung der Handlungsempfehlungen für neue rechtliche Standards sowie die Präsentation der Pilotanwendung vorgesehen. Verfolgt wird ein offenes »Repository«, das Unternehmen Zugang zu technischen und juristischen Fachkonzepten bietet, die auf ihre Eignung hin getestet werden können. Gleichzeitig sollen auf Smart Contracts basierende Musterverträge, exemplarische AGB, Apps und API’s sowie (Basis-)Connectoren des Industrial Data Space abrufbar sein.

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