Smarte Blechbeschaffung mit KI

Materialverfügbarkeit bei möglichst geringen Kosten sicherzustellen, ist für produzierende Unternehmen in einer immer komplexeren und volatileren Welt eine Herausforderung. Althergebrachte Verfahren gelangen immer schneller an ihre Grenzen. Die Lösung: die am Fraunhofer IML entwickelte KI-Software »AI-BOSS«.

Blechbeschaffung
© Ferro
Blechplatten in einem Lager

Die Wunschvorstellung von produzierenden Unternehmen ist klar: Rohmaterialien sollen möglichst immer in ausreichender Menge und rechtzeitig zur Verfügung stehen. Durch immer speziellere Kundenanforderungen hat sich die Variantenanzahl der zu beschaffenden Materialien jedoch stark erhöht. Auf der anderen Seite sind Lieferzeiten und Mindestbestellmengen der Lieferanten zu beachten. In der Praxis haben Unternehmen ihre Disposition für die zu beschaffenden Materialien mit althergebrachten Verfahren durchgeführt: vor allem mit sogenannten ABC- und XYZ-Analysen. Die Güterklassifizierung geschieht bei diesen Verfahren meist anhand von Verbrauchsverläufen in der Vergangenheit. 

Im Idealfall werden die gängigsten Materialien mit gleichmäßigem Bedarf gelagert. Mittlerweile schwanken bei vielen Unternehmen Materialbedarf und -verfügbarkeit jedoch stark. Der »ifo Knappheitsindikator für das Verarbeitende Gewerbe« hat sich zwar seit dem Höhepunkt der CoronaLockdown-Maßnahmen auf 31 % im Juni 2023 reduziert, ist aber immer noch deutlich höher als im Jahr 2016 (2,1 %). Die althergebrachten Verfahren zur Materialdisposition sind für diese neue sogenannte VUCA-Welt (volatility, uncertainty, complexity and ambiguity), in der wir leben, schlecht geeignet. Hier können Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) Abhilfe schaffen – das Fraunhofer IML hat daher in Zusammenarbeit mit der Ferro Umformtechnik GmbH & Co. KG eine KI-Lösung für die Blechsortimentsbildung entwickelt. Ferro Umformtechnik fertigt für seine Kunden teleskopierbare Systeme für Krane, Hubarbeitsbühnen und Teleskoplader, Muldenkörper für den Fahrzeugbau sowie Komponenten für Anwendungen wie z. B. Transportbänder, Brücken-/Waggonbau oder Erneuerbare-Energie-Anlagen. 

Hierfür beschafft das Unternehmen Rohbleche mit unterschiedlichen Abmessungen, Stahlgüten und Oberflächen von seinen Lieferanten. Diese kundenspezifische Fertigung erfolgt in Kleinserien, teilweise sogar mit Losgröße eins. Die Lieferanten verlangen jedoch Mindestbestellmengen, die häufig größer als der Bedarf für die jeweiligen Kundenaufträge sind. Die Folge: Das Unternehmen verfügt über einen erheblichen Bestand an Rohblechen. Daher haben Ferro Umformtechnik und das Fraunhofer IML eine KI-basierte Lösung erarbeitet, um das Sortiment zu reduzieren. Die Grundidee: das Clustern von ähnlichen Blechen für unterschiedliche Kundenaufträge. Ein Praxisbeispiel: Ausganspunkt sind zwei Kundenaufträge mit ähnlichem Rohblechbedarf. Ähnlich heißt dabei, dass die Bleche im Hinblick auf die Stahlgüte (z. B. S355J2+N), Oberflächenbeschaffenheit (warmgewalzt und gebeizt) und Dicke (z. B. 7 mm) gleich sind, sich also nur in Länge und Breite unterscheiden. 

Blechbeschaffung
© Ferro
Männer stehen neben gelagertem Blech

Angenommen, für einen Kundenauftrag werden vier Bleche mit einer Länge von 10 Metern und einer Breite von 1,8 Metern sowie für einen anderen Auftrag sechs Bleche mit den Abmessungen von 10,5 x 1,6 Metern eingesetzt. Typische Bestellmenge für diese beiden Rohbleche sind 10 Stück. Bei der auftragsindividuellen Rohblechbeschaffung müssten also sechs Bleche für den ersten Auftrag und vier für den zweiten eingelagert werden. Es wäre jedoch möglich, einen Rohblechartikel mit den Abmessungen von 10,5 x 1,8 Metern zu beschaffen und für den jeweiligen Kundenauftrag den nicht benötigten Rand abzuschneiden. Der dabei entstehende Verschnitt wird verschrottet. Dieser Verschrottungsverlust kann aber zu einem Gewinn werden, wenn z. B. die Lagerhaltungskosten (Lagerung, Handling und Kapitalbindung) größer als die Verschnittkosten sind. Durch die Analyse aller möglichen Zusammenfassungen der Blechbedarfe ließe sich so der Blechbestand optimieren. Zur Bewertung werden noch weitere Größen wie die Bestellkosten oder der Lagerplatzbedarf verwendet. Die zu bewertende Cluster-Anzahl steigt jedoch sehr schnell mit der Anzahl an ähnlichen Blechen an. Während es für drei ähnliche Bleche nur fünf Clustermöglichkeiten gibt, steigt die Anzahl der zu bewertenden Cluster bei zehn Blechen bereits auf mehr als 100 000 Kombinationen. Ein »Durchprobieren« aller Kombinationsmöglichkeiten ist nicht praktikabel. Hier setzt die Lösung »AI-BOSS« (Artificial Intelligence Based Optimization of Sheet Sourcing) des Fraunhofer IML an. Durch Einsatz von KI-Verfahren werden in wenigen Sekunden »smarte« Blechcluster gebildet. Die Lösung haben die Forschenden im Rahmen eines Projekts mit Ferro Umfomtechnik und eines Forschungsprojekts des Dortmunder Leistungszentrums Logistik und IT entwickelt und zum Einsatz gebracht. Das Fraunhofer IML arbeitet weiter an AI-BOSS, um die Lösung auch für andere Unternehmen und in verwandten Bereichen einzusetzen. So kann z. B. das Sortiment bei Stahlstäben ähnlich gebildet werden. Gleiches gilt für die Beschaffung in der Holz- und Papierverarbeitung. Die Potenziale für smarte Beschaffungslösungen im Vergleich zu den althergebrachten Methoden sind beträchtlich und lohnen sich vor allem angesichts der Herausforderungen der »VUCA-Welt«.

Markus Witthaut

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Dr.-Ing. Markus Witthaut

Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML
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