Nichts tun ist keine Option

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Wie nachhaltig und resilient ist Ihr Logistiknetzwerk? Antworten auf diese Frage bleiben oftmals vage. Zu komplex erscheinen die Indikatoren, die parallel zu bewerten und in belastbare Aussagen zu überführen sind. Doch wachsende globale Unsicherheiten verlangen genau das. Denn auch die Logistik muss ihren Beitrag leisten, wirtschaftliche Umbrüche zu meistern und den Auswirkungen des globalen Klimawandels entgegenzuwirken.

Was schert es mich, wenn in China ein Sack Reis umkippt? Vergleichende Redewendungen wie diese sollte die Globalisierung längst ad absurdum geführt haben. Denn auch scheinbar bedeutungslose Mikroereignisse können eine ungeahnte Dynamik entwickeln, die in Folge einen globalen Dominoeffekt auslöst. Nicht zuletzt dokumentieren Pandemie, Lieferengpässe, der Krieg in der Ukraine und protektionistische Tendenzen unmissverständlich, dass es eben doch nicht egal ist, was anderweitig auf lokaler Ebene geschieht bzw. seinen Ursprung hat. Fehlen zum Beispiel Mikrochips, geraten ganze Industrien unter Druck. Aber auch Wetterextreme infolge des Klimawandels fordern ihren Tribut und gefährden die Versorgungssicherheit. Außerdem ist das Problem des durch Transport und Logistik verursachten Ausstoßes an Treibhausgasen (THG) bei Weitem noch nicht gelöst.

Schwachstellen identifizieren und Verbesserungspotenziale aufdecken

Angesichts dieser von multiplen Krisen geprägten VUCAWelt ist es längst an der Zeit bis überfällig, Lieferketten wesentlich resilienter und umweltfreundlicher zu gestalten. Expertinnen und Experten der Verkehrslogistik am Fraunhofer IML widmen sich daher schon seit geraumer Zeit der Frage, wie Supply Chains robuster konzipiert und gleichzeitig THG-Emissionen maßgeblich reduziert werden können. Auch wird mithilfe neu entwickelter Optimierungsverfahren aufgezeigt, wie sich, auch wenn es ambitioniert klingt, ein weitestgehend ausgewogenes Verhältnis zwischen Kostenaufwand und Wirkungserfolg erzielen lässt – und zwar mithilfe des »Sustainable Network Design« (SND). Das Projekt setzt auf der klassischen Logistiknetzwerkplanung auf und erweitert diese in Richtung Nachhaltigkeit und Resilienz. Erfasst und ausgewertet werden Transportemissionen, allgemeine Standortemissionen, Emissionen für das Artikelhandling und Emissionen, die beim Einkauf der Waren entstehen. »Im Ergebnis bedeutet dies, dass für jeden Lagerstandort angegeben werden kann, wie viele Schadstoffe bei der Beschaffung, dem Handling und dem Transport von Waren in die Umwelt gelangen«, erklärt Projektleiter Bernhard van Bonn. Aus diesen Ergebnissen, die Handelsunternehmen auch für ihre Scope-Berechnungen gemäß »Greenhouse Gas Protocol« heranziehen können, ist weiterhin ableitbar, inwieweit ein Umstieg auf E-Flotten lohnt, ob der gewählte Strommix sinnvoll ist und/oder grundlegender Modernisierungsbedarf für den Standort besteht. Integriert in das mathematische Grundmodell wurde zudem der Resilienzfaktor »Ausfallkosten von Standorten«. So wird für jeden relevanten Knoten des Netzwerks simuliert, welche Auswirkungen es hat, wenn nur einer seinem Produktivauftrag nicht mehr in gewohntem Maße nachkommt. Neuralgische Punkte werden identifiziert und Ansätze erarbeitet, wie verhindert werden kann, dass eine komplette Lieferkette von nur einem Produktionsstandort abhängig ist, etwa in Form punktueller Kapazitätsbeschränkungen und von Einbezug alternativer Lieferanten – Stichwort: Diversifikation.

Kosten vs. Emissionen – aussagekräftige Ergebnisse mit Realitätsbezug

Im Anschluss an die Testphase wurden erstmals Echt-Daten von Projektpartnern in das Modell implementiert. Im Mittelpunkt der Betrachtung stand ein exemplarisches Logistiknetzwerk in Osteuropa, das sich aus fünf potenziellen Lagerhäusern zusammensetzt und etwa 6000 Kunden bedient. Dabei wurde angenommen, dass sämtliche Standorte identische Eigenschaften hinsichtlich Kapazität, Emissionen und Kosten für In- und Outbound-Aktivitäten aufweisen, die sowohl den Transport als auch das operative innerbetriebliche Warenhandling betreffen. Anhand dieses Szenarios war eines schnell klar: Wenn das Maßnahmenpaket ausschließlich auf die Reduzierung von THG-Emissionen als Mischung aus transportbedingten und am Standort entstehenden Treibhausgasen zielt, sind Einsparungen von etwa 50 Prozent möglich. Gleichzeitig wäre eine derart einseitige Konzentration jedoch mit einem Kostenanstieg in gleichem Umfang verbunden. Folglich sollten mithilfe einer simultanen Optimierung von Emissionen und Kosten bei verschiedener Gewichtung alternative Logistiknetzwerke identifiziert werden. So kamen die WissenschaftlerInnen unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich 15 Prozent der Emissionen bei einem Kostenanstieg von gerade einmal 6,5 Prozent senken lassen. Dies indiziert eine relative Kosteneffizienz der initialen Emissionsreduktion. Weiterhin zeigte das Modell, dass ein Netzwerk mit einem verringerten Schadstoffausstoß von 48,5 Prozent Mehrkosten in Höhe von 36 Prozent verursachen würde. Das bedeutet, dass die Reduktion der letzten 1,5 Prozent an Emissionen – gemessen am Ursprungsszenario mit 50 Prozent – zusätzliche Aufwendungen von 14 Prozent einfordert. Derzeit arbeiten die ForscherInnen daran, diese Verhältnisse von Kosten und Einsparungen an THG-Emissionen weiter zu verbessern. Insbesondere auf der Kostenseite sind hier noch Potenziale zu heben.

Widerstandsfähigkeit von Netzwerken parallel unter der Lupe

Netzwerkkonfigurationen solchen Formats sind aus wirtschaftlicher und ökologischer Perspektive natürlich höchst attraktiv und werden der Favoritenliste schnell hinzugefügt. Daher sorgt die Einbeziehung der Resilienz in die Optimierung dafür, dass Entscheidungen nicht zu Lasten der Stabilität gehen. Am Beispiel des Netzwerks, das 6,5 Prozent höhere Kosten und 15 Prozent geringere Emissionen aufweist, wird offensichtlich, dass es ohne Berücksichtigung des Resilienzfaktors unverhältnismäßig stark auf einen Standort angewiesen sein könnte. Dieser wiederum birgt die Gefahr einer Ausfallwahrscheinlichkeit und hoher Ausfallkosten. »Die gleichzeitige Optimierung von Kosten, Emissionen und Resilienz ist von entscheidender Bedeutung, um ein ausgewogenes, nachhaltiges und widerstandsfähiges Logistiknetzwerk zu gestalten«, unterstreicht Tim Kerkenhoff aus dem Team SND. Eine einseitige Betrachtung, die sich nur auf einen dieser Aspekte konzentriere, können zu suboptimalen Ergebnissen führen und wichtige Synergien übersehen. Die integrierte Betrachtung aller drei Faktoren hingegen versetze Unternehmen in die Lage, effizientere und robustere Entscheidungen zu treffen, von denen die eigene Organisation, aber auch Gesellschaft und Umwelt gleichermaßen profitieren.

Umweltschonende Logistik
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Pflanzen wachsen an Gerüst an einer Fassade

Ressourceneffizienz und THG-Emissionen im Fokus

Mit GILA ging im Juli 2020 ein weiteres Projekt an den Start, das die weltweiten Bemühungen unterstützt, durch die Logistik verursachte THG-Emissionen zu reduzieren. Zugleich finden die darin erarbeiteten Kennzahlen Eingang im Projekt »Sustainable Network Design« (SND). GILA steht für »German, Italian & Latin Amercian consortium for resource efficient logistics hubs & transport«. In diesem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (bmbf) geförderten Projekt arbeitet ein Konsortium aus zehn Partnern unter Leitung des Fraunhofer IML an neuen Nachhaltigkeitskonzepten.

»Die Definition eines einheitlichen methodischen Vorgehens zur Bewertung der Umweltperformance von Logistikzentren steigert nicht nur die Transparenz, sondern schafft eine zuverlässige Basis für operative und strategische Entscheidungen«, berichtet Projektleiterin Kerstin Dobers. Dabei geht es sowohl um die Reduzierung von THG-Emissionen als auch um eine ressourceneffizientere Ausgestaltung von Lagern, Fulfillment-Centern, Hubs oder Terminals mit Schnittstellenfunktion innerhalb der Transportketten. Auch das Ziel einer »Circular Economy« ist in diesem Zusammenhang von Relevanz. »Ermittelte durchschnittliche Emissionsintensitätswerte oder andere Umweltindikatoren können in vorhandene Berechnungstools und Initiativen für umweltfreundlichen Transport eingebunden werden, beispielsweise als Standardwerte in dem Tool ›EcoTransIt World‹ oder als Benchmark«, so Kerstin Dobers weiter.

Preview auf die Bilanz der GILA-Marktstudie 2023

grüne Energie mit Solarpanelen
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Stromproduzierung durch Solarpanele auf einem Dach

Grundlage und Impulsgeber gleichermaßen ist eine jährlich aufgelegte, internationale Marktstudie, über die auch Einblicke in regionale klimatische Bedingungen und industrielle Präferenzen für spezifische Technologien gewonnen werden. Ein zentrales Instrument zur Bewertung des Ressourcenverbrauchs und der Emissionseffizienz ist das sogenannte REff Tool® (Resource Efficiency at Logistics Sites). Es befähigt teilnehmende Unternehmen, relevante Ressourcenverbräuche des Standortes für ihre Klimabilanz aufzunehmen. Im Ergebnis werden belastbare KPIs für Lager und Umschlag berechnet, zum Beispiel THG-Emissionen pro gelagerte Palette. Das systematische Monitoring hat zudem den Vorteil, signifikante Handlungsfelder schnell identifizieren und Reduktionsmaßnahmen zielsicher umsetzen zu können. Die Ergebnisse der Marktstudie 2023 werden voraussichtlich im Oktober gemeinsam mit den Projektpartnern in einem Webinar offiziell vorgestellt. Nach erster Analyse behalten die Daten aus dem Jahr 2022 ihre Gültigkeit. Demnach resultieren 75 Prozent der THG-Emissionen aus dem Stromverbrauch. 

Quer über die drei Aktivitätscluster Umschlag, Lager und Warehousing entfallen durchschnittlich 35 Prozent auf die Kühlung von Waren, 28 Prozent auf Beleuchtung und 28 Prozent auf den Materialtransport. Der Betrieb reiner (Tief-)Kühlhäuser beansprucht mit bis zu 78 Prozent erwartungsgemäß den Löwenanteil an Strom. Auf die Frage, wie erneuerbar die verwendete elektrische Energie ist, gaben die befragten Unternehmen an, dass mehr als 70 Prozent des Gesamtverbrauchs dem jeweils angebotenen nationalen Strommix zuzuordnen ist. 32 Prozent der Standorte nutzen Elektrizität, die eigenen Angaben zufolge »grüner« ist als die über den regulär zu beziehenden Strommix. Sieben Prozent produzieren ihren Strom selbst, indem sie zum Beispiel PV-Panels nutzen. 

»Die Definition eines einheitlichen methodischen Vorgehens zur Bewertung der Umweltperformance von Logistikzentren steigert nicht nur die Transparenz, sondern schafft eine zuverlässige Basis für operative und strategische Entscheidungen«

Dr.-Ing. Kerstin Dobers

Neue ISO 14083 – EU-Direktive geplant

Ergänzend unterstützt das REff Tool® bei der Etablierung neuer Normen wie etwa ISO 14083 für die Bilanzierung und Berichterstattung von THG-Emissionen von Transportvorgängen. Diese Ausrichtung wird auch von der Europäischen Kommission forciert. So plant Brüssel derzeit eine Direktive, die die ISO als international vereinheitlichten Bewertungsstandard im Sinne des »Green Deal« definieren soll. Nutzende des REff Tools® erhalten unter anderem Angaben zum Carbon Footprint eines oder mehrerer Standorte und zu deren durchschnittlichen Emissionsintensitätswerten. Sie können eigene Ergebnisse den Kennzahlen, die in der Marktstudie abgebildet sind, gegenüberstellen und als Benchmark verwenden. Die derzeitige Datenbasis von mehr als 900 Standorten weltweit kann zwar als Erfolg von GILA gewertet werden. Doch die Fortsetzung der Forschungsarbeiten soll helfen, zukünftig eine noch solidere Kennzahlenmatrix für die Emissionsintensitätswerte von Logistikstandorten realisieren zu können. Auch das REff Tool® wird weitergeführt.

Ganzheitliches Change-Management gefragt

Handeln oder abwarten, was passiert? Unter der Prämisse, dass Lieferketten auch in turbulenten Zeiten funktionieren müssen, ist diese Frage eher rhetorischen Charakters. Gleiches gilt für die Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt. Nachhaltigkeit als reines Buzz-Wort abzukanzeln, wird dem Ernst der Lage bei Weitem nicht gerecht. Es sind vielmehr massive Anstrengungen erforderlich, die im Idealfall beide Aspekte parallel bedienen. Aufrechterhaltung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit ist eine Seite der Medaille, Verantwortung der Unternehmen gegenüber Gesellschaft und Umwelt die andere. In die Zukunft investieren bedeutet natürlich, initial Geld in die Hand nehmen zu müssen – und die Bereitschaft, neue strategische Wege auch durch Einsatz geeigneter Technologien einzuschlagen. Werkzeuge wie das »Sustainable Network Design« (SND) und das REff Tool® weisen den Weg. 

Umweltschonende Logistik
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An einer Fasse wachsen Pflanzen
Kerstin Dobers

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Dr.-Ing. Kerstin Dobers

stellv. Abteilungsleitung Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft

Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML
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Bernhard van Bonn

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Dr.-Ing. Dipl.-Inform. Bernhard van Bonn

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Tim Kerkenhoff M.Sc.

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Tim Kerkenhoff M.Sc.

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